"Kalter Vollzug : Entzug/Substitution im Knast

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Sabine
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Registriert: Fr 18. Apr 2014, 09:15

"Kalter Vollzug : Entzug/Substitution im Knast

Beitrag von Sabine »

"Drogen gibt es in allen Gefängnissen, etwa ein Drittel der Häftlinge ist süchtig. Die Anstalten haben die Pflicht, sie angemessen zu behandeln - aber oft müssen Drogenkranke hinter Gittern leiden.
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Als Mark ins Gefängnis kommt, ist er süchtig. Etwa ein Drittel der Häftlinge in deutschen Gefängnissen ist abhängig – die meisten von klassischen Drogen wie Heroin oder Crystal. Viele kommen an und haben gleich mehrere Substanzen im Blut. Mischkonsum nennt man das.

Wie geht man mit diesen Insassen um? Hat der Staat nicht die Pflicht, sich in Haft um diese Häftlinge besonders zu kümmern? Damit sie clean werden? Tut er das auch?
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Als Mark in den Knast kommt, hat er verschiedenste Präparate im Blut, die seine Leistung steigern sollten.

Der Entzug und die Behandlung klassischer Süchte wie Heroin mit Ersatzstoffen wird „Substitution“ genannt. In Freiheit werden Süchtige bei Ärzten in der Praxis therapiert. Aber die Behandlung ist keine gesetzliche Pflicht. Ärzte im Gefängnis entscheiden allein über die Therapie. Für das medizinische Ethos müssen die Mediziner allerdings immer tun, was zum Wohle des Patienten nötig ist. Eine Sucht ganz ohne Medikamente zu entziehen – der gefürchtete „kalte Entzug“ –, ist eine Straftat: Körperverletzung.

Vor seinem Haftantritt hat Mark einen Brief an die Anstaltsleitung geschrieben: Er sei Kraftsportler und nehme regelmäßig eine höhere Dosis Testosteron sowie andere Präparate. Mark weiß: Wenn diese ausbleiben, droht seinem Körper die Hölle. Mark weiß auch: Es ist nur eine Frage der Zeit.

Denn die Präparate, die in seinem Körper stecken, haben verschiedene Abbauzeiten – die einen beginnen rasch mit den Entzugserscheinungen, andere brauchen länger. Manche Tage, andere Wochen.

Sein Körper ist eine chemische Zeitbombe.

Er legt auch dem Arzt nahe, ihn doch zu behandeln. Dabei packt er ein paar Fachworte aus. Der Arzt fand Marks Verhalten vermutlich durchaus arrogant.
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Mark hatte - so gesehen - die schlechtmöglichste Anstalt für sich erwischt.

Denn manche Anstaltsleitungen sind der Auffassung, es müsse nicht substituiert werden. Sie sehen auf Süchtige herab. Das „Europäische Komitee zur Verhütung von Folter“ (CPT) stellte bei einem Besuch in drei deutschen Anstalten gravierende Unterschiede in den Behandlungen fest: Während Substitution in manchen Gefängnissen Standard ist, wird sie Häftlingen in anderen komplett vorenthalten.

Der Freistaat Bayern wurde ausdrücklich vom CPT und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gerügt: Niemand dürfe „Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden“. Heroin wird mit Methadon, Buprenorphin oder Diamorphin behandelt. In Ländern wie Österreich, Spanien und der Schweiz sind diese Behandlungen längst Standard.
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Hierzulande werde „die Behandlung der Mehrzahl der Inhaftierten verweigert“, schreibt die Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin (DGV) in einer aktuellen Stellungnahme. Eine Substitution werde häufig sogar abgebrochen, wenn Patienten draußen behandelt worden sind, aber ins Gefängnis kommen. Nur etwa fünf Prozent der männlichen Strafgefangenen würden in Deutschland ordnungsgemäß substituiert, schreibt die DGV. Und dabei sei es klare Vorgabe und Pflicht für die Ärzte, „Inhaftierte bei bestmöglicher Gesundheit zu halten“.
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Die Schuld tragen auch die behandelnden beziehungsweise nichtbehandelnden Ärzte.

Warum sie dies tun, beziehungsweise nicht tun, darüber wird spekuliert: Auch bei Ärzten draußen hat die Substitution nicht den besten Ruf. Manche Mediziner meinen, man kapituliere damit vor der Sucht und dem Junkie. In manchen Anstalten gilt vorauseilender Gehorsam, der politische Druck aus den Ministerien, diese Behandlung nicht durchzuführen.
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Die Quittung bekommt Mark, als er das Gefängnis verlässt. Er wendet sich an einen Urologen, und der stellt fest, dass Marks Körper schon seit Jahren das körpereigene Testosteron nicht mehr produziert. Das kann sich auf die Hoden auswirken und auf die Zeugungsfähigkeit.

Mark verklagt seine Anstalt."


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