"Der dumpfeste Rausch von allen"/Wiesn + Cannabis

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Sabine
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Registriert: Fr 18. Apr 2014, 09:15

"Der dumpfeste Rausch von allen"/Wiesn + Cannabis

Beitrag von Sabine »

"Alkohol bis zum Umfallen, für die konservativsten Politiker des Landes ist das Leitkultur. Die sanfteren, geselligeren, interessanteren Drogen bleiben verboten.

Gerade ist das beliebteste Drogenfestival des Landes, das Münchener Oktoberfest, zu Ende gegangen. 6,2 Millionen Besucher wurden von den Veranstaltern gezählt, insgesamt 7,5 Millionen Liter Bier wurden getrunken. 85 Alkoholvergiftungen meldete die Münchener Universitätsklinik bereits zur Halbzeit des Festivals, der am stärksten betrunkene Patient hatte 3,14 Promille Alkohol im Blut. Zahlreiche Herzattacken mussten in der Klinik behandelt werden, die ein eigenes Ausnüchterungszentrum eingerichtet hatte.
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Unter dem Hashtag #leitkultur beschrieb ein Facebook-Nutzer seine Erlebnisse am nächtlichen Hauptbahnhof folgendermaßen: "Überall brüllende Besoffene, eine junge Frau kackt mitten zwischen den Fußgängern an die Laterne (keine Sorge, sie trug kein Kopftuch), alle taumeln hin und her wie bei einer Zombie-Invasion, Sicherheitsleute passen auf, dass die Zombies niemanden versehentlich auf die Gleise stoßen, überall schlafende Bierleichen, teilweise Kotze als Kissen." Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer lobte all dies als Ausdruck der deutschen Mehrheitskultur und forderte, dass der Begriff "Wiesn" endlich in den Duden aufgenommen wird.
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Unverständlich bleibt allerdings der Umstand, dass sich das Recht auf Rausch auf dem Oktoberfest auch in diesem Jahr wieder auf die Einnahme einer einzelnen Substanz beschränkte.
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Ebenfalls nicht erlaubt war der Genuss von Marihuana, obwohl dieses – anders als der alkoholbedingte Rausch – den Nutzer meist friedfertig und sanftmütig stimmt. Dennoch meldete die Polizei schon zur Halbzeit des Oktoberfests doppelt so viele Festnahmen wie im Vorjahr wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, die meisten davon wegen Marihuana. Die Zunahme habe vor allem damit zu tun, dass die Wiesn nun flächendeckend mit Überwachungskameras versorgt sei.

Warum bloß werden harmlose Kiffer mit Überwachungskameras gejagt, während sich drumherum Horden aggressiver Trinker unbehelligt ins Koma bringen? Warum ist der eine Rausch erlaubt und der andere nicht? Das sind keine ganz neuen Fragen. Aber selten wird die Absurdität unseres gesellschaftlichen und kulturellen Umgangs mit Drogen derart sichtbar wie auf dem Oktoberfest im Besonderen und in München im Allgemeinen. Nirgendwo sonst wurden Kiffer schon seit Jahrzehnten so drakonisch verfolgt wie in der bayerischen Hauptstadt, und nirgendwo sonst wurde das Rauchverbot so früh und strikt durchgesetzt.
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Kaum sind die Kohorten von Experten verstummt, die uns jahrelang auf allen Medienkanälen über die Gefahren des Nikotingenusses aufklärten, schwillt schon der Chor derjenigen an, die das Alkoholtrinken in der Öffentlichkeit verbieten möchten; sie wechseln sich mit jenen Experten ab, für die "Sitzen das neue Rauchen" ist; oder mit jenen, die den Konsum von Zucker generell verringern oder verbieten wollen. Wenn man all diese Vorschläge zusammennimmt, ergibt sich das puritanische Wunschbild eines dauerhaft nüchternen, stets in Bewegung befindlichen und zwischen Arbeitsstätte und Fitnessstudio hin und her hechelnden Menschen, der seine ganze Gesundheit und Körperkraft in den Dienst einer ebenso formierten wie freudlosen Gesellschaft stellt. Kann man das wollen?
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Wäre es nicht an der Zeit für einen Relaunch der Drogendebatte? Für eine Deprogrammierung unseres immer noch vor allem an kulturellen Gewohnheiten orientierten und von den dazugehörigen politischen und industriellen Lobbys gesteuerten Diskurses darüber, welche Drogen man unter welchen Umständen nehmen darf oder sollte und welche nicht? Sicher wäre es kein gutes Zeichen für eine freie Gesellschaft, wenn man einen – mir und vielen anderen Menschen sehr unangenehmen – asozialen Exzess wie das Oktoberfest verböte. Sollen die Leute da halt saufen, grölen und kotzen. Aber mit welchem Recht dürfen dieselben Politiker, die diesen asozialen Exzess zum Bestandteil der deutschen Leitkultur verklären, mir und anderen Menschen jene Drogen verbieten, die uns aufgeschlossener machen: weicher, sozialer und veränderungsbereiter? "


http://www.zeit.de/kultur/2017-10/droge ... leitkultur


Schon über 600 Kommentare, das Thema scheint doch aufzuwühlen.
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