pepre hat geschrieben: ↑Mi 29. Nov 2023, 20:01
Oh! Holla, die Waldfee!
§ 34 Strafvorschriften
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer
...
5. entgegen § 2 Absatz 1 Nummer 5 Cannabis einführt, ausführt oder durchführt
...
Nach § 35 (Strafmilderung und Absehen von Strafe) wird folgender § 35a eingefügt:
§ 35a Absehen von der Verfolgung
(1) Hat das Verfahren ein Vergehen nach § 34 Absatz 1, 2 oder Absatz 5 zum
Gegenstand, so kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung absehen, wenn die
Schuld des Täters als gering anzusehen wäre, kein öffentliches Interesse an der
Strafverfolgung besteht und der Täter lediglich zum Eigenverbrauch Cannabis in
geringer Menge anbaut, herstellt, einführt, ausführt, durchführt, erwirbt, sich in
sonstiger Weise verschafft oder besitzt oder Cannibinoide extrahiert.
ZB wenn man 10g Gras aus den Niederlanden über die Grenze für den Eigenverbrauch mitnimmt, oder - Gott bewahre - sich das Zeug per Packerl schicken läßt... Inwieweit kann man § 35a als verbindlich ansehen? Gar nicht? Oder ist das so ein "kann": in Bayern gibt's dafür Todesstrafe, in Berlin unterbricht der Staatsanwalt nicht mal seinen Mittagsschlaf?!
Ich würde § 35a nicht überbewerten. Es ist ja durchaus eine Erleichterung: eine Verfahrenseinstellung wegen geringer Schuld ist bislang erst nach Anklageerhebung durch das zuständige Gericht und mit Zustimmung des Angeklagten und der Verteidigung (sofern vorhanden) zulässig. Da muß dann also schon ein entsprechendes "Buhei" veranstaltet worden sein, Akten vollgeschmiert und hin und her verschickt, allerlei Gebührentatbestände verwirklicht worden sein, bevor man zu so einer Einstellung kommen konnte.
Jetzt kann es der Staatsanwalt, bevor dieses Buhei überhaupt losgegangen ist, selbst nach freiem Ermessen, wie es bei "kann-Vorschriften" faktisch ermöglicht wird. Es hängt also davon ab, welchen Staatsanwalt man erwischt, ob er von dieser Vorschrift überhaupt Gebrauch machen will und wie er für sich selbst "geringe Schuld", "geringe Menge" und das "Fehlen öffentlichen Interesses" definiert oder "fühlt" oder von seinem LOStA, dem "Leitenden Oberstaatsanwalt", dem Behördenchef entsprechende Anweisungen bekommen hat.
Zudem ist seine Entscheidung, von dieser Möglichkeit der Einstellung Gebrauch zu machen, nicht rechtsmittelfähig. Man erfährt ja überhaupt nichts davon, auch in der Akte, wenn sie zur Anklage kommt, muß sich nichts darüber finden.
Praktisch gesehen: die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Leipzig wird in den wenigen Fällen, in denen die Leipziger Polizei wegen Mengen unter 1 Pfund die Staatsanwaltschaft überhaupt belästigt, von dieser Vorschrift großzügigen Gebrauch machen - die Kgl.-Bayrischen Staatsanwaltschaften werden sie zu ignorieren suchen. Das wird dann aber vermehrt zu adrenalinschwangeren Telefonaten zwischen Kgl.-Bayrischen Amtsgerichtsräten und den Staatsanwälten führen ...
Edit 1.12.23:
Es verhält sich so, daß die Möglichkeit der Einstellung von Strafverfahren "wegen geringer Schuld" ohne - § 153 StPO - oder mit Auflagen (meist Geldbußen, Gemeinnützige Arbeit usw) - § 153a StPO - zu den in der Praxis wichtigsten Instrumenten zum "Totschlagen" von Strafverfahren gehört. Die Möglichkeiten nach §S 153 ff StPO setzen aber ein eröffnetes Hauptverfahren vor dem Gericht voraus und alle Beteiligten: Staatsanwaltschaft, Gericht, Verteidigung und der Angeklagte selbst - müssen zustimmen.
Diese Einstellung kann aber auch ausserhalb der Hauptverhandlung erfolgen. Was ich öfters praktiziert habe: als Verteidiger habe ich in Fällen von Relevanz schon vor der Festsetzung eines Termins für die Hauptverhandlung eine heute allgemein unübliche "Schutzschrift" an das Gericht (und die Staatsanwaltschaft) gerichtet und darin die "Linie" der Verteidigung offengelegt, die "Angriffspunkte" gegen den Tatvorwurf und auch entsprechende Beweisanträge angekündigt. Wenn mir der Fall als dafür geeignet erschien, habe ich einige Wochen später den Gerichtsvorsitzenden angerufen und eine Einstellung nach o.g. Vorschriften ins Spiel gebracht, was sehr oft zum Erfolg führte, zumal wenn ich mit dem Gerichtsvorsitzenden schon persönlich bekannt gewesen war. In einigen Fällen hat dabei eine Rolle gespielt, daß ich eine Geldbuße meines Mandanten "angeboten" habe, die nicht ganz unerheblich gewesen war.
Diese Art und Weise, Strafverfahren "totzuschlagen" ist nicht unumstritten. Es gab vor mehreren Jahren einen sehr prominenten Fall: Der Formel-1-Unternehmer Eccelstone hatte den Vorstandsvorsitzenden der Bayrischen Landesbank mit einigen MIllionen bestochen, um einen Kredit im Milliardenbereich zu bekommen. Die Sache flog auf und beide landeten vor Gericht. Der - inzwischen geschaßte - Bankvorstand wurde zu einer Haftstrafe von 6 1/2 Jahren verurteilt, die er auch zu 2/3 "abbrummen" mußte (wenn auch großenteils im "offenen Vollzug" dh "Feierabend-Knast") - Eccelstone hat eine Einstellung nach $ 153a erreicht - gegen eine Geldbuße von 150 Millionen Euro. Die hohe Strafe gegen seinen "Geschäftspartner" einerseits und die geradezu astronomische Höhe der Geldbuße andererseits spotten Kübel von Hohn auf die "geringe Schuld" des Angeklagten Eccelstone. Wer genug Zaster hat, kann sich "freikaufen" - wer diesen Zaster nicht hat, muß "brummen". Das ist Wasser auf die Mühlen der "Kapitalismuskritik" - des Volkssports der Möchtegern-Intellektuellen - und "verfassungspolitisch" hochgradig bedenklich: nach Orwell: alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind eben noch viel gleicher.
Wenn ein Leipziger Fahrradfahrer hier in der Stadt in einer Polizeikontrolle mit einem 10-g - Beutel Gras mit Aufdruck vom Coffeeshop in Holland "erwischt wird", ist schon die Chance sehr groß, daß die Polizei "offiziell" wegguckt und dem Fahrradfahrer ein Verwarnungsgeld von 20 € aufdrückt, weil sein Rücklicht nicht funktioniert hat. Geht die Sache trotzdem zur Staatsanwaltschaft, dann wird sie - wenn das Gesetz in Kraft tritt - höchstwahrscheinlich nach der neuen Vorschrift einstellen.
Wenn das aber kein Leipziger war, sondern einer aus Mingharting in Oberbayern (wo der Kgl. Bayrische Landtagsabgeordnete Josef Filser herstammt), der auch noch in Mingharting "erwischt worden" ist, dann gibt es nicht nur eine Anklage wegen verbotener Einfuhr, sondern auch noch eine wegen Handeltreiben, und obendrein vielleicht auch noch Hausdurchsuchung, Entziehung der Fahrerlaubnis und was diesen wildgewordenen Urwaldgermanen da sonst noch so einfällt.
Das GG setzt unter anderem das Staatsziel einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland - was insbesondere Grundlage des "Länderfinanzausgleichs" ist. Von diesem Staatsziel wird jetzt wieder ein Stück weit weg gerückt, die "Rechtsgemeinschaft" errodiert immer mehr.